Mittwoch, 15. April 2015

Paris-Roubaix: Von der Hölle des Nordens direkt ins Paradies.

Freitag, kurz vor 22.00, irgendwo in Belgien. Wir sitzen an der ödesten Autobahnraststätte, die ich je gesehen habe und versuchen verzweifelt, die komische Musik, die aus den Lautsprechern dröhnt, zu überhören. Die Hölle des Nordens, hier bekommt sie das erste Gesicht. Kurz später fahren wir in Lille ein, treffen den Rest der Guilty-Gang. Die Jungs sind schon länger hier, haben auch schon die ersten Pavés unter die Reifen genommen und was sie erzählen, lässt mich schlucken. Nehme dann doch ganz schnell das angebotene Bier, muss die aufkeimende Angst vor der Strecke runterspülen. 0,33 Liter später liege ich im Bett, es ist weich, unbequem, von draußen schimmert orangefarbenes Licht durch die Vorhänge. Dazu ziehen immer wieder die Bilder vorbei von schlamm- und staubbedeckten Radsporthelden, schweren Stürzen, zerbrochenen Rahmen und Knochen, zum Schlafen komme ich kaum. Entsprechend früh bin ich wach und entsprechend früh realisiere ich, dass die verdammte Wettervorhersage ausnahmsweise mal passt. Es regnet, die Straße glänzt feucht und wie das Kopfsteinpflaster aussieht, mag ich mir im Moment gar nicht vorstellen. Ich könnte ein Bier vertragen, aber es gibt nur einen Joghurt mit Banane, ein Brötchen und einen schnellen Kaffee aus der Kapselmaschine. Auch die anderen sind mittlerweile wach, das große Pow-wow bringt eine spontane Planänderung. Verworfen wird die 140-Kilometer-Runde, der Blick auf die Karte zeigt eine angesichts des Wetters attraktive Abkürzung, die gute 40 Kilometer und vor allem einige Pavés spart. Aber zuerst gilt es den Weg von Lille nach Roubaix zu finden, langsam wird die Zeit bis zum letzten möglichen offiziellen Starttermin knapp. Kreuz- und quer kurven wir durch triste Wohngebiete, erste Schlammdusche auf einem Feldweg und dann unter dem Protest einiger Autofahrer ab auf die Autobahn, Fotos und Espresso bei Rapha, vergebliches Warten auf weitere zwei vermisste Guiltys und mit knapp einer halben Stunde-Verspätung geht’s dann doch los – für Rock & Roll-Verhältnisse also überpünktlich. Dazu hat es aufgehört zu regnen, ab und an blitzt sogar die Sonne durch die Wolkendecke, die Lust aufs Radfahren ist zurück. Entspannt cruisen wir über schmale Straßen bis zur ersten Streckenteilung, hier wollen wir abkürzen. Kurze Abstimmung und plötzlich finde ich mich doch auf der geplanten Runde wieder – Max und Sebastian, die Sonne und die mittlerweile weitgehend trockene Straße haben mich umgestimmt. Mehr Kilometer, mehr Pavés und vor allem auch: nur noch zu dritt, statt zu neunt gegen den immer stärkeren Wind ankämpfen. Heisa. Zügig passieren wir die erste Verpflegung, schon geschlossen, rechts, links, kurze Orientierungsschwierigkeiten, noch mal rechts, dann werden die Beine plötzlich weich. Das erste Pavé steht an, gleich 5-Sterne, gleich der Wald von Arenberg. Das Pflaster glänzt feucht, dazwischen schimmert grünes Moos. Meine beiden Begleiter knallen ordentlich rein, ich versuche dran zu bleiben und dabei doch so vorsichtig wie möglich zu fahren, keine gute Kombi. Kopf ausschalten und treten wäre besser aber dazu geht mir viel zu sehr die Düse, ablegen will ich mich auf keinen Fall. Noch besser wäre es, wenn die Kette oben bliebe, aber dummerweise habe ich aufs kleine Blatt geschaltet und nun ist sie unten. Anhalten, und von Null losrumpeln, gar nicht gut. Mehr schlecht als recht hopple ich zum Ausgang des Pavés und frage mich im Sekundentakt, warum man sich und seinem Material so was freiwillig antut. Immerhin muss ich nicht mein eigenes Rad quälen, Votec hat uns extra für diesen Event Bikes zur Verfügung gestellt und zumindest bis hierhin hat es sich schon mal bewährt, genauso wie die Easton-Laufräder mit 27er Reifen von Vittoria, die das Gerumpel wenigstens ein bisschen dämpfen. Auch gedämpft: meine Vorfreude auf die nächsten Pflasterpassagen, Hammerschlag folgt jetzt auf Hammerschlag, Wallers à Hélesmes, Hornaig à Wandignies, Brillon, Auchy à Bersée, Mons-en-Pévèle – wir werden gerüttelt und geschüttelt, ab und zu klopft die Felge blechern von unten, aber von Pavé zu Pavé läuft es besser, wir werden schneller und schneller und rollen dabei das Feld von hinten auf. Kein Problem auf den Asphaltstücken, auf dem Pflaster nicht ganz so schön, denn die Ideallinie ist schon nach dem dritten oder vierten gefahrenen Abschnitt meist blockiert, im Zick-Zack wühlen wir uns durch die Massen. Ab und an verabschiedet sich zwar auch mal einer freiwillig in einen der tiefen Gräben rechts und links, aber insgesamt bremsen die ständigen Überholmanöver doch ganz schön. Unschön ist auch das Loch im Bauch, dass sich bei mir langsam bemerkbar macht, gestern nur zwei Brötchen, heute kaum Frühstück und zwei Riegel, höchste Zeit, dass eine Verpflegung kommt. Bei Kilometer 105 ist endlich so weit, doch außer trockenen Waffeln und Bananen gibt es nichts. Also noch einen Riegel, Flaschen auffüllen und weiter – direkt in den einsetzenden Regen. Tropfen, Niesel, Katzen und Hunde, echtes Klassikerwetter, in Minuten sind wir klitschnass, die Pflasterabschnitte haben sich in rutschige Matschpisten verwandelt. Ich entdecke ein Straßenschild Richtung Roubaix, eine Abkürzung wäre jetzt echt wieder eine ernsthafte Option, aber die Jungs lassen sich nicht erweichen, alleine will ich nicht fahren, weiter. Max und Sebastian lassen sich auch auf den Pavés nicht bremsen, ich nehme deutlich raus und lasse es ab sofort wieder etwas gemütlicher angehen. Keine unschlaue Entscheidung, rechts und links schlittern und purzeln komplett überforderte Radler über die radsporthistorisch so bedeutenden Steine. Es folgen Templeuve, Boughelles à Wannehain, Champin-en-Pévèle, dann der letzte 5-Sterne-Abschnitt: Carrefour de L’Arbre, die letzte große Herausforderung auf dem Weg nach Roubaix. 2,1 Kilometer, kaum ein Stein gleicht dem anderen – wenn überhaupt einer da ist. immer wieder zieren tiefe Löcher die grobe Piste, dazu haben sich Treckerspuren tief eingegraben. Trotzdem im Vergleich zum Trouàe d’Arenberg fast so was wie ein Kindergeburtstag. Denke ich und schon fällt mir zur Strafe auch hier die Kette runter. Ist aber auch nichts mehr, was uns aufhalten kann, in Nullkommanix erreichen wir Roubaix und rein ins Vélodrome. Geiiiiiillllllllllll. Und in Sekunden verwandelt sich selbst die dunkelste Hölle in den schönsten Himmel. Nur ohne Glocke.

Rapha Cycling Club joined by Guilty 76 Racing an Pavé fünf - nur ein paar Stunden nach einer fast durchzechten Nacht. Zig Guiltys, die Rapha-Crew und eine bunte Truppe aus Zuschauern aus allen möglichen Ländern stieren auf den Großbildschirm am Raphabus. Ehren-Guilty John „Dege“ Degenkolb biegt auf Position drei ins Vélodrome ein, geht aus dem Sattel, sprintet, Stybar und Avermaet verzweifeln, haben keine Chance, endlich die Linie, Dege geht drüber, Arme oben, holt sich den Sieg. Wir brüllen unsere Freude raus, feiern, jubeln. Die Hölle des Nordens hat sich noch mal verwandelt – jetzt ist sie das Paradies.


Keine Kommentare: